Das Christnachtswunder in der Holzkiste (1901)

Es war am Heiligen Abend des Jahres 1901. Um die Jahrhundertwende war es in Freienohl wie in vielen anderen Orten des Sauerlandes noch Sitte und Brauch, dass das Christkind seine Weihnachtsgeschenke in der Heiligen Nacht austeilte, wenn die Kinder schon schliefen. Der Weihnachtsmorgen bildete daher das Ziel aller Wünsche und Hoffnungen. Zu denen, die es einmal gar nicht abwarten konnten, bis die Eltern den Blick in das vom Christkind zu nächtlicher Stunde vorbereitete Wunderreich freigaben, gehörte auch der damals fünfjährige Karl K. Von einem Versteck in der Küche aus wollte er das Himmelskind mit dem güldenen Haar bei der Bescherung überraschen.

Mit gedämpfter Stimme entwickelte der mutige Karl seinem zweijährigen Brüderchen im gemeinsamen Schlafzimmer den verwegenen Plan. Gesagt, getan. Als im Hause die Stille der Heiligen Nacht eingekehrt war, stahlen sich die beiden - nur mit dem Nachtpolter bekleidet - leise wie Indianer in die Küche. Der Mond schien gespenstisch durch das  Fenster herein. Elektrisches Licht gab es noch nicht, denn erst im Jahre 1911 kamen dessen Segnungen nach Freienohl.


Das Versteck am Herd

Für den zweijährigen Paul war schnell ein Versteck gefunden. Er musste sich in die mit Holz und Spänen gefüllte Holzkiste zwängen, während Karl - der Anstifter des Planes - in einer Nische beim Holzkasten Unterschlupf fand. Ohne jeden Zeitbegriff, von Kälte erstarrt, hielten sie nun in ihrer trostlosen Lage aus, obgleich Paul in der Holzkiste wegen Raum- und Luftmangels immer wieder den Deckel zu heben versuchte, den Karl aber ebenso beharrlich wieder zudrückte.

Unerwartete "Bescherung"

Nach einer unendlich lange währenden Zeit wisperte der Ältere dann plötzlich in die spaltbreit gelüftete Kiste: "Et kümmet!". Von Angst und Schrecken erfasst, wagte nun keiner mehr, den Blick hochzuheben. Deutlich hörten sie nur, wie das Christkind die Petroleumlampe anzündete, mit dem Feuerhaken die Ringe vom Herd nahm und das Rost sauber machte, offenbar, um Feuer anzuzünden. Nun aber geschah, was beide nicht in ihre Pläne einkalkuliert hatten: das Christkind griff in die Holzkiste, um daraus Späne hervorzukramen. Das Christkind stieß einen Schrei aus, während Paul und Karl, an dessen nackten Zehen die schweren Winterschuhe des Christkindes haarscharf vorbeistrichen, einer Ohnmacht nahe waren.

Wie im Traume ließen sie es geschehen, dass sie das Christkind, das beim matten Schein der Petroleumlampe fast die lieben Züge der Mutter trug, sie wieder in das Bettchen brachte. Als die beiden durchgefrorenen Buben anderntags am späten Vormittag aufstehen durften, sahen sie, dass das gute Christkind sie trotz des bösen nächtlichen Abenteuers noch reich beschenkt hatte. Nie wieder haben sie den Versuch gemacht, dem Geheimnis der Heiligen Nacht auf die Spur zu kommen...

Diese Geschichte, die sich wirklich in Freienohl zugetragen hat, wird von den beiden dort heute (1961) noch lebenden Brüdern alljährlich unter dem Weihnachtsbaum erzählt. Auch die vor acht Jahren verstorbene Mutter hat immer wieder gern von diesem Weihnachtsmorgen berichtet.

Literaturnachweis: Nach einem Bericht der Familie Kordel in der Westfälischen Rundschau, Weihnachten 1961 veröffentlicht.